Wie sagte schon der gute alte Geheimrat : « Warum in die Ferne schweifen… ? » wenn das Gute nur 150 km von Paris entfernt liegt ! Natürlich war ich schon mehrmals für Konzerte im Département l’ORNE – aber noch nie privat zum Wandern im PERCHE. Dahin kommen Mireille und ich, weil in Burgund alles voll und ausserdem überteuert ist und wir unbedingt im Wald wandern wollen.
Das trifft sich nun gut, weil der Name dieser ehemaligen Grafschaft von « Sylva pertica », der geneigte Wald, kommt. Unsere Reise dauert nur ganze zweieinhalb Stunden und je weiter wir kommen, nachdem wir die etwas langweiligen riesigen Getreidefeldern der Beauce hinter uns haben, desto besser gefällt uns die hügelige grüne Landschaft.

Und auch die kleinen Dörfer und vereinzelten Gehöfte sehen so richtig schnuckelig aus.

Wir haben ein tolles B&B gefunden, also ein chambre d’hôte mit Frühstück für schlappe 30 € pro Nacht und Nase in einer alten « longère », die früher ein Bauernhaus war.

Im ersten Stock finden wir ein richtiges Appartement mit zwei Schlafzimmern, einem geräumigen Bad und sogar einem kleinen « salon » mit TV und Sofa zum Lesen. Also alles bestens.
Eine Stunde später sind wir schon auf dem Weg in das nur 6 km entfernte Städtchen MORTAGNE-AU-PERCHE !

Als Erstes wird uns die Kathedrale Notre Dame vom Touristenbüro empfohlen. Sie ist mächtig groβ für ein Städtchen von knapp 3000 Einwohnern. Das Ausmaß der Kirchen wird uns überall in der Gegend erstaunen.

Heute kommt aber noch ein kleines Erlebnis hinzu. Jede von uns zündet immer für alle unsere Lieben eine kleine Kerze an. Die wird in dem Opferstock, der gegen Diebstahl durch einen Schlitz gesichert ist, bezahlt. Ja von wegen – hier ist man modern : Wir müssen zum ersten Mal in unserem Leben mit der Kreditkarte bezahlen !
Da heute Montag ist – in Frankreich bekanntlich der Tag, an dem fast alle Läden geschlossen sind – hat Mi es klugerweise vorgezogen, sich im Netz nach den Restaurants der Stadt zu erkundigen. Und da kommt etwas Seltsames heraus : es gibt zwar ein rundes Dutzend Gaststätten, aber wenn man die Fast Foods abzieht und die, die mitten im Sommer wegen Betriebsferien zumachen, nebst denen, die am Montag nicht öffnen — da bleibt uns nur ein asiatisches Essen. Wir erwischen gerade noch den letzten Tisch !
Die Franzosen bevorzugen eben bei weitem das Meer oder die Berge im Sommer, für « la campagne » können sich weniger erwärmen. Das erfahren wir auch bei unserer ersten Wanderung am nächsten Tag, vom örtlichen Touristenbüro als « einfacher Spaziergang, familienfreundlich » von 5,2 km vorgeschlagen. Na fein, das werde ich mit den Stöcken ja wohl schaffen.
Nachdem wir uns auf dem Markt des 500-Seelen-Dorfes LA-CHAPELLE-MONT-LIGEON, der genau zwei Stände umfasst, mit Käse und Aprikosen für’s Picknick eingedeckt haben (die Wasserflasche ist natürlich wie immer gefüllt), gehen wir los.
Der Anfang, auf einer kleinen geteerten Straβe, ist einfach. Doch dann geht es hundert Meter stetig aufwärts, danach runter-rauf-runter, über Stock und Stein. Wurzeln müssen umgangen oder überstiegen werden, Hunderte von Tannen- und Kiefernzapfen sind gefährlich für einen Ausrutscher, Brennesseln und Brombeerzweigen muss ausgewichen werden. Zum Teil ist der Weg sandig und zweimal durch den Regen von vorgestern ausgesprochen matschig.

Aber der Wald ist einzigartig schön und bis auf zwei Joggern und einem Radler begegnen wir keinem Menschen. Dennoch bin ich heilfroh als wir – noch im Wald – die gewaltige Basilika Notre-Dame vor uns entdecken, da sie das Ziel der Wanderung ist.

Sie ist wieder einmal ein Beispiel für das, was ein einziger Mensch bewirken kann. In diesem Fall ist es die Initiative von Abbé Paul Buguet, der von 1878 bis zu seinem Tod im Jahr 1918 Pfarrer von La-Chapelle-Montligeon war. Er sorgte sich um die Notwendigkeit, für die Seelen der Verstorbenen zu beten,
die im Fegefeuer schmoren – aber er war auch bemüht, auch die Wirtschaft seines Dorfes wiederzubeleben.
Das gelang ihm prächtig, denn er wurde vom Papst Leon III unterstützt und gründete 1884 das « Œuvre expiatoire pour la délivrance des âmes du purgatoire » (Sühnewerk für die Befreiung der Seelen im Fegefeuer). Seitdem reisst der Strom der Pilger nicht ab.

Die Kirchenfenster der Basilika sind berühmt – aber auch hier macht der liebe Gott Mittagspause und die Kirche macht zu. Daher verzehren wir unser Picknick auf einer Bank vor diesem imposanten Gebäude, das 74 m lang und 32m breit ist !
Auf der Rückfahrt begegnen wir in einem kleinen Dorf der Postbotin, die ihr Auto nicht ganz erlaubt angehalten hat und uns zuzwinkert als wir langsam vorbeifahren.
Und dann glauben wir, eine Halluzination zu haben : um 13h30 sehen wir vor uns aus einem Garten ein junges Reh kommen !! Es verhält, sieht uns wirklich an, Mi bremst – und schon verschwindet es mit zwei eleganten Sprüngen über die Straβe in den Büschen. Wow !

Abends nehmen wir einen Aperitif auf dem Hauptplatz von Mortagne, wo es lebhaft zugeht, denn da reiht sich eine Bar/Brasserie an die andere. Allerdings servieren sie Essen fast alle nur mittags, abends machen sie manchmal nur drei Tage in der Woche auf…auch in der Hochsaison, denn « es lohne sich nicht ».
Zu ihrer Ehre muss gesagt werden, dass wir Bauklötze über die hier üblichen Preise staunen : ein Martini für 3,50 (glatt das Doppelte in Paris), ein Hauptgericht schon für 13 € – das ist nun wirklich seinen Preis wert !
Heute Abend probieren wir ein neues Restaurant aus, in dem Mi vorausschauend reserviert hat. Es heisst «Comme à la ferme – Wie beim Bauern » und kombiniert originell einen kleinen Laden mit Köstlichkeiten aus der Gegend (alle bio) mit einem kleinen Restaurant.
Wir sind quasi die Ersten und dürfen uns den Tisch aussuchen. Schon die Auβenansicht macht neugierig und innen ist das Ambiente ebenfalls sehr angenehm durch moderne Möbel und alte schwarz-weiss Fotos der berühmten Pferde der Gegend, « les percherons ».

Die Eigentümerin Ghislaine bringt uns als « Einstiegsgeschenk » eine Hartwurst mit Pfifferlingsgeschmack. Als ich Mimis verzückt verdrehte Augen sehe, kann ich nicht anders, als auch ein Scheibchen zu probieren. Sie ist wirklich sehr lecker !
Danach dürfen wir aus der kurzen Speisekarte wählen. Mi bestellt eine « Flamme locale – Flamme von hier », soll heissen ein Flammekuchen wie im Elsass aber – wir sind ja immerhin in der Normandie ! – mit Käse und Rahm angereichert.
Auf mich wartet ein besonderes Erlebnis. Einmal im Jahr esse ich gerne im Restaurant ein Stück gebratenes Rind, weil ich mir das nie mache. Es muss aber « fast durch sein » und das ist immer riskant, denn weder blutig noch zu trocken. Hier wird es mit einer « Sauce Maître d’hôtel » angeboten – aber die ist leider aus, wie Ghislaine mir bedauernd mitteilt. Sie versichert mir aber, dass ihre « Sauce Camembert » DIE Spezialität des Hauses UND der Region sei, die ich unbedingt probieren müsse. Also gut, seien wir mutig !
Äh, also das Fleisch ist sehr gut, die Pommes auch, dem Salat fehlt leider die Soβe und die Spezialität ? Na, die schmeckt eben wie zerlassener Camembert. Mut wird doch nicht immer belohnt.

Dazu trinken wir aber einen sehr leckeren Rosé « L’Allamand », der noch dazu zu meiner Herkunft passt. Und die ganze Herrlichkeit kostet jede nur 20 € !
Am nächsten Morgen ist es genau wieder so strahlendes Wetter wie schon seit Montag und nicht zu heiβ. Wie fahren nach LA PERRIERE, einem romantischen Dorf in der Nähe von BELLÊME und dem gleichnamigen Wald mit seinen berühmten riesigen Eichen.

Da das dortige Touristenbüro erst um 10 Uhr aufmacht, haben wir Zeit für einen Bummel. Viele Blumen und schöne Häuser. Manch Pariser dürfte hier wohl sein Ferienhaus haben, zumal die Preise unschlagbar sind. Allerding muss man das Landleben lieben…

Die « kleine Stadt mit Charakter », wie sie sich nennt, ist wirklich bildhübsch mit vielen Blumen,

romantischer Dekoration, einem Mini-Rathaus und einem ebenso kleinen Kramladen ausgestattet, in dem wir wundersamerweise eine kleine Flasche SCHORLE erstehen. Wir hatten keine Ahnung, dass es sowas in Frankreich gibt.

Als das Touristenbüro – das gleichzeitig als Museum für die hier beliebte Klöppelarbeit fungiert – aufmacht, zeigt uns eine nicht sehr motivierte Frau einen Wanderweg auf, dem wir auch folgen, der uns aber gar nicht gefällt – der Wald hier wirkt auf uns ausgesprochen düster und abweisend.

Also disponieren wir um und fahren ein Dorf weiter, nach SAINT-MARTIN-DU-VIEUX-BELLÊME . Merke : je kleiner das Dorf, desto länger sein Name. Genau wie ich mir das ausgerechnet hatte, finden wir hier den Weitwanderweg GR 22, der zuerst durch das Dorf und dann am Waldrand, mit schönen Ausblicken auf Wiesen und Felder bis zur Försterei führt.

Dort weist uns der nette junge Förster, « immer weiter hinauf bis zum hölzernen Gatter, dann rechts hinunter bis zum Dorf ». Und genau das machen wir auch, heute ist der Weg einfacher und das tut ebenfalls gut.

Abends gehen wir zum Rathaus von Mortagne-au-Perche, bzw. in dessen schön angelegten Garten mit Ausblick auf die Gegend.

Hier wurde der berühmte Sohn der Stadt, Émile-Auguste Chartier geboren, der sich Alain und «philosophischer Journalist » nannte.


Wir gehen auf ein Glas zur Terrasse einer Weinbar und bewundern die Figuren, die uns dabei zuschauen.
Für unsere letzte Wanderung haben wir uns wieder für eine andere Richtung entschieden und fahren nach TOUROUVRE-AU-PERCHE. Das ist wieder solch ein nettes Dorf, in dem die Menschen offenbar viel auf die Beine stellen, um ihre Gemeinschaft zu feiern : Laienspieltheater, Tanzkurse, Musik aller Arten werden
angeboten und diverse kleine Festivals.

Hier werde ich auch endlich für meine Geduld mit der« Jagd auf die Ansichtskarte » belohnt. Es gibt im Zeitalter von WhatsApp und Mails nämlich kaum noch welche – sehr zum Kummer meines ältesten Freundes Jean, der sie immer noch sammelt !
Ich frage im Zeitungsladen nach und die nette junge Frau zuckt bedauernd mit den Schultern. Sie hätte vor Jahren angeregt, doch Fotos vom Ort für die Touristen zu machen und sie hätten danach auch alle hergestellten Postkarten verkauft, aber nun wären sie eben alle. Wir sollten es doch mal im Touristenbüro versuchen. Und, hurra, es klappt, Jean wird sich freuen.
Ausgestattet mit dem Ratschlag, « nach dem Stadtrand bis zur grossen Kreuzung im Wald, Richtung BRESSOLETTE und dort parken ». Bestens, also los. Stadrand ok, Kreuzung ok, Schild Bressolette ok — und dann kommt nichts mehr.
Das kann uns rasend machen in diesem Land : um EIN Schild zu sparen, schicken sie die Menschen, die hier NICHT wohnen in die Irre ! So auch uns. Als wir nach 5 Kilometern umkehren, entdecken wir auch richtig das Schild, dass von der andern Seite aus nicht zu sehen war. Grrrrr !
Wir befinden uns im kleinsten Dorf der Normandie (und vielleicht Frankreichs) mit nur 24 Einwohnern. Das Rathaus ist Montags von 13h30 à 14h30 geöffnet, die Kirche ist zu.

Unser Weg führt erst ziemlich lange eine kleine Fahrtstraβe entlang, bis wir endlich in den sehr schönen Wald kommen, der viel lichter ist als die anderen beiden und der schlicht « FORÊT DU PERCHE » heisst.

Er gefällt uns besonders gut, genau wie drei Fischteiche an denen wir vorbeikommen.

Und zum Abschluss dieser schönen Tage machen wir unser Picknick an der originellen Kreuzung im Wald, die uns den Weg in die Zukunft weist, vor dem süβen Försterhäuschen , sehr froh, wieder einmal Neuland erkundet zu haben – noch dazu vier Tage lang OHNE EINE MÜCKE !!!
